Dialekt, von gr. διαλέγομαι, dialegomai „miteinander reden“

Caveat (8.8.16): Der Artikel ist von meinem alten Blog importiert und der Vollständigkeit halber hier. Aus heutiger Sicht würde ich ihn als teilweise unwissenschaftlich bezeichnen.

Endlich komme ich dem Aufruf der „alten Kiehvotz“ nach, an ihrer (bzw. seiner) Blogparade teilzunehmen – mit Vergnügen! Zumal Dialekte ein so dankbares Thema sind, ist es doch kaum je erschöpft. Lasst uns alle unsere Beobachtungen und Ansichten in den Topf werfen und dann wird kräftig umgerührt in der Hoffnung, dass sich Völkerverständigung und kein Öl-Essig-Verhältnis einstellt. So werde auch ich meinen Senf dazugeben, mit dem Versuch, linguistische Hintergründe einfliessen zu lassen…

Ich spreche Schweizerdeutsch. Die Schweiz, jaja. Sie wird zwar als eigen wahrgenommen, aber gerade sprachlich eher als ein Anhängsel von Deutschland. Herzig, diese Schweizer. Daher jedenfalls unser Minderwertigkeitskomplex. Ich bin mir nicht sicher, was man sich ausserhalb der Schweiz unter Schweizerdeutsch vorstellt. Darum ein Probiererli in meiner Mundart (für das exotische Erlebnis habe ich den Text eingesprochen):

I de Schwiiz redt me vor allem Schwiizertüütsch – e hochalemannischi Mundart, wo sogar i de Wikipedia verträte isch. Im Alltag ghört me sehr selte Hochtüütsch. Im Radio und Fernseh werded nu Noochrichtesändige uf Hochtüütsch usgschtrahlt. Bi Zuegreiste, wo nid guet Schwiizertüütsch verstönd, hend die meischte Schwiizer kei Problem zum uf Hochtüütsch umzschalte (bzw. uf Standardtüütsch). Für da, wa mir als Hochtüütsch bezeichned, werded mir zwor immer wieder belächled, aber hey: so schlimm isch es den au wieder nid.
Natürlich isch alles Gschribne i de Schweiiz uf Hochtüütsch – e standardisierti schwiizerüütschi Orthografie het sich nie duregsetzt, wohrschindli au wels kei Standard-Schwiizertüütsch git (meh dezue wiiter unne). Ganz informelli Sache wie SMS oder au E-Mails schriibed allerdings vor allem di Jüngere gärn uf Schwiizertüütsch, eifach grad so, wie mes seit, und as Hochtüütsch aaglehnt, wel da d Lesbarkeit erhöht.

Herzig, oder? 😉

Ich stelle vor: „Schaffhauserdeutsch“, mein Dialekt, in dem die meisten Beispiele hier sind. In Anführungszeichen, weil es eine Unter-Unter-Unter-Unter-Unterkategorie der deutschen Sprache ist, die eher auf Gefühl denn Belegen basiert. Eine Stufe höher wäre dann das Ostschweizerische, das auch eher auf Gspüri (Wahrnehmung) und Geografie gestützt ist. Wie die meisten schweizerdeutschen Dialekte – Achtung: Wissenschaftssprech – gehört es zum Hochalemannischen.

Dann ist noch zu sagen, dass Dialekte oder Mundarten in der Schweiz einen anderen Stellenwert haben: Der Dialekt existiert als selbstverständlicher alltäglicher Begleiter neben der Schriftsprache und hat nicht den Beigeschmack „ungebildet“.

Aber was macht nun einen Dialekt aus? Sehr auffällig sind einerseits verschiedene Lautinventare, bzw. Lautentsprechungen, die aus unterschiedlich verlaufenen Lautverschiebungen resultieren. Am Beispiel des Schweizerdeutschen: Chüssi (k am Wortanfang entspricht meist ch), luschtig, Chnoschpe (st und sp werden immer scht und schp ausgesprochen), Biig, Wii, miis (wo im Deutschen ein ei, steht im Schweizerdeutschen oft langes i), Huus (Ein hochdeutsches au entspricht meist einem schweizerdeutschen uu. Hier hat das Schweizerdeutsche die ältere Form hûs (mit langem u) bewahrt, während im Standarddeutschen die Reise weiterging zu einem Diphthongen, vgl. den Eintrag in Grimms Wörterbuch)

Auch bezeichnend für einen Dialekt ist das Vokabular – beispielsweise Bölle (Zwiebel), Bitzggi (Kerngehäuse des Apfels), Gschpäänli (Spielkamerad), Guezli (Keks), (t)schute (Fussball spielen), böögge (popeln), Gfätterlischuel oder neutraler Chindsggi (Kindergarten), Gopfertammi (wütender Ausruf, von „Gott verdamme mich“), Saugoof (Balg), Brösmeli (Brosamen) oder, noch eher zu erschliessen: Zmorge, Znüni, Zmittag, Zvieri und Znacht.

Vermeintlich schlüpfrige Wörter haben wir sicherlich viele zu bieten; mir fallen da gerade ein: fötzle (Fötzel, also verrissenes Papier, oder Ähnliches (meist Abfall) zusammenlesen), Fotzelschitte (altes Brot, in Milch eingelegt und mit Ei gebraten) abgfigget (ausgelaugt, verbraucht; ohne sexuelle Anspielung) und huere* (verstärkend: „sehr, extrem“; wohl von „Hure“, hat aber in diesem Zusammenhang die ursprüngliche Bedeutung eingebüsst).

Wörter sind bekanntlich oft regional verbreitet. Ins Schweizerdeutsche fanden zum Beispiel viel französisches Vocabulaire Eingang, wie merci, exgüsi, Velo, und das Gelerettli (Uhr, von „quelle heure est-il“), von dem ich freilich noch nie jemanden habe sprechen hören. Es kommt auch oft vor, dass eine semantisch verwandte Vokabel sich in einem Dialekt als normal durchsetzt, während sie in anderen nur eine Nebenform ist: Ross (Pferd), Rüebli (Karotte), schaffe (arbeiten), luege (schauen), lose (hören).

In Deutschland sind die Schweizer für ihre Diminutive bekannt. Allerdings hängen wir nur an gewisse Wörter immer ein -li an, bei anderen nur, wenn es sich um etwas Kleines handelt. So sagen wir immer Päckli, Zeltli (Bonbon), Liibli (T-Shirt), Heftli (Magazin) und so weiter. Nur bei kleinen Ausführungen kommen dagegen beispielsweise folgende Verkleinerungen zum Zuge: Löffeli, Büechli, Schiibli, Velöli, Fenschterli und und und (aber NIE: Fränkli). Damit lässt sich wunderbar zum nächsten Abschnitt überleiten: Selbst- und Fremdwahrnehmung und Abgrenzung. Auch bekannt unter dem Schlagwort „Identität“.

Während Deutschland die Schweiz als ein einziges grosses – oder vielleicht eher kleines – Dialekt-Naturschutzgebiet wahrnimmt, ist die Schweizer Wahrnehmung – wer hätte das gedacht – sehr viel differenzierter. Die Schaffhauserinnen grenzen sich von den St. Gallerinnen ab, die Berner von den Zürchern, die Baselstädterinnen von den Basellandschafterinnen… Aber wenn es darum geht, die Deutschschweiz nach aussen zu „verteidigen“, ziehen wir die Trennlinie plötzlich zwischen Schweizerdeutsch und Französisch (der so genannte Röstigraben) oder zwischen Schweizerdeutsch und Hochdeutsch (wobei wir uns, zumindest in diesem Moment, der vielen deutschen Dialekte natürlich auch nicht bewusst sind).

sprechende-schweiz.png

Die Realität ist also wie immer viel komplizierter als man sie gerne hätte. Wie soll man denn da einen Überblick erlangen? Also lassen wir das Abwägen für einmal beiseite und machen wir uns an greifbare Einteilungen.

Eine grobe Einteilung würde ich in Berner, Zürcher, Bündner, Basler, Walliser, Innerschweizer, Ostschweizer und Mittelland-Dialekte vornehmen. Die Schweizer verstehen sich untereinander ziemlich gut – etwas ein Sonderfall sind die Walliser*, deren Sprache so schrägen Lautwandeln unterworfen war, dass der Dialekt für die restlichen Deutschschweizer tendenziell unter „exotische Sprachen“ eingeordnet wird. Das Wallis ist also salopp gesagt für die Schweiz, was diese wiederum für Deutschland ist**.

Wir erkennen am Dialekt schnell, woher jemand kommt. Allerdings nimmt mit der Entfernung die Unterscheidungskompetenz (logischerweise) ab – so meinen Berner, ich käme aus St. Gallen, obwohl für mich der Sanktgaller-Dialekt grundverschieden klingt von Schaffhauserdeutsch. Im Gegenzug kann ich Stadtberner nicht sofort von Berneroberländern unterscheiden (die sprächen langsamer und sowieso und überhaupt gaaaanz anders als die Städter, habe ich mir sagen lassen). Die Luzerner würden vermutlich protestieren, mit den „urchiger“ klingenden Innerschweizern oder den „durchschnittlichen“ Mittelländern in einen Topf geschmissen zu werden, St. Gallen Stadt ist nach der Wahrnehmung der Einwohner wahrscheinlich sprachlich meilenweit entfernt vom Toggenburg oder Rheintal, und den Appenzellern werde ich damit eh nicht gerecht.

Es ist also nicht ganz einfach zu sagen, „so heisst das auf Schweizerdeutsch“ – denn die einen sagen Grüezi („Ich grüsse Sie“), die anderen „Grüess-Äch“ („Ich grüsse Euch“ – in der Region Bern fungiert die zweite Person Plural als Höflichkeitsform). Also kommt der Deutsche mit seinem Grützi (Exgüsi, Klischee) nicht besonders weit. In Schaffhausen sagt man Butter und Zopf, in Bern Anke und Züpfe.

Das bringt mich zur Feststellung, dass Schaffhauserdeutsch in mancher Hinsicht dem Schwäbischen ähnlicher ist als dem Berner Dialekt (Südschwäbisch wird ohnehin mit dem Schweizerdeutschen zum Hochalemannischen gezählt). Was ja auch einleuchtend ist, ohne sich eingehend mit Dialektgeografie zu beschäftigen: Im Dorf zwei Kilometer weiter ist der Dialekt ähnlicher als 200 km entfernt, egal, ob da eine Grenze ist und das eine Schweizerdeutsch und das andere Schwäbisch heisst (Schwäbisch hat z.B. auch die „Abart“ (vom Hochdeutsch aus gesehen), sp und st immer mit sch zu sprechen, und die Liste von grammatischen Merkmale das Schwäbischen in der Wikipedia liest sich für mich fast wie ein Beschrieb des Schweizerdeutschen). Solch kühne Behauptung unterstütz auch die Wikipedia**.

Deshalb die Frage: Wie künstlich ist die Einteilung in Dialekte? Im deutschsprachigen Raum sind Dialektkontinua an der Tagesordnung und klare Grenzen so schnell verwischt wie geortet. Doch der Einfachheit halber darf man sich unbesorgt ans Modell der Dialektgebiete halten – solange man im Hinterkopf behält, dass sich Sprachen nicht an geografische Grenzen halten.

Ich fand es so schön, dass gebracht auf Walliserdeutsch gibrunge heisst, dass ein paar Dörfer weiter die Zahl zwei drei Genera hat (zwee, zwaa, zwoo), dass britische us wie üs klingen, wie Schotten die Vokale langziehen, eine Berlinerin die gs durch Jot ersetzt oder die Berner alle ls zu us machen, dass ich Allgemeine Linguistik studiere. Nun ist Schönheit natürlich zutiefst unwissenschaftlich. Aber wir wissen es doch alle: Dialekte sind schön!

Weitere Links zum Thema Schweizer Dialekte: Chochichästli-Orakel (Wo gehört mein Dialekt hin?); www.dialekt.ch (Website der Uni Basel mit Hörbeispielen); *Neuvertonung einer Yoghurtwerbung auf Walliserdeutsch; **Wissenschaftliches bei der Wikipedia: Schweizerdeutsch
Die Illustration habe ich zusammengeschustert auf der Basis einer Schweizerkarte aus Wikimedia Commons und eines Bildes des Flickr-Users *clairity* unter CC-Lizenz

5 Comments

  1. Herzhafter Beitrag Danke!

    Ich habe gerade beim eingesprochenen Beitrag herzlich geschmunzelt. Sprache ist doch einfach TOLL!

  2. Hi

    So, jetzt melde ich mich auch endlich mal auf deinen Beitrag. Ging leider nicht früher…

    Freut mich, dass mal ein schweizer Dialekt an der Parade teilgenommen hat!

    Am besten gefallen mir natürlich die vermeintlich schlüpfrigen Wörter 😀

    Interessant ist für mich auch, dass ihr Schweizer-Deutschen (darf man das so sagen?) als Verniedlichungsform ein „li“ anhängt, bei uns ist das ein einfaches „l“, so zum Beispiel bei Packet: Packl | oder Fischbüchse ->Fischbix -> Fischbixl…

    Und habe ich das im Text richtig herausgelesen, dass ihr selbst nicht so richtig unterscheiden könnt, aus welcher Region der gerade gehörte Dialekt kommt?

    Gruß alte-kiehvotz

  3. Kim

    Naja, kommt drauf an; die gängigsten Dialekte (also etwa die Gruppen, die ich aufgezählt habe) erkennen wir schon! Die Region ist also kein problem. Und die Schweiz ist ja etwa so gross wie ein deutsches Bundesland, da ist es auch keine Schande, nur fünf Regionen gleich zu erkennen.

    Es gibt einfach Dialekte, wo man aus der Gegend sein muss oder ziemlich lange zuhören, um auf die Schliche zu kommen. Gerade die Rheintaler sind zum Beispiel keine typischen St. Galler, sondern so etwas „Vequetschtes“ zwischen St. Galler Dialekt und Bündner.

    Aber eben: Zu den grossen Gruppen können wir die Dialekte schon zuordnen. Wenn jetzt halt die Berner finden, Schaffhauser seien St. Galler, liegen sie damit ja nicht kolossal daneben (beides Ostschweiz), aber wenn man es eine Stufe genauer nimmt (da geht’s dann um Regionen von vielleicht 20km Ausbreitung), gibt es natürlich wieder Unterschiede, die man als „Betroffener“ stärker wahrnimmt. Darum meine „These“, dass die Kompetenz mit der Enfernung abnimmt (liegt ja auf der Hand).

    Grüsse und danke nochmals für die herrliche Blogparade! Habe erst bei einigen reingeschaut und bin gespannt, die anderen Beiträge zu lesen 🙂

  4. Pingback: Auswertung - Dialekt-Blogparade | alte-kiehvotz.de

  5. Klasse Beitrag! 🙂 Super interessant zu lesen.

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